Polestar ist weltweit auf dem Vormarsch. Auch in der Schweiz erfreut sich Volvos Elektrotochter immer grösserer Beliebtheit. Zwar ist Tesla hierzulande noch immer der Elektroplatzhirsch auf den Strassen, doch wer achtsam ist, wird den Polestar 2, das aktuelle Modell der Marke, hie und da erspähen. Spätestens mit dem Polestar 3 dürfte die Marke in der Schweiz Fahrt aufnehmen, sind wir doch ein Land von SUV-Fans. Und wem das noch immer zu wenig ist, kann sich mit genug digitalen Nullen auf dem Konto vielleicht schon bald einen Polestar Roadster kaufen.
Mein Redaktionskollege Bruno Rivas hatte den Polestar 2 im Oktober 2021 bereits in einer 90-minütigen Probefahrt testen können und war äusserst angetan vom nordischen Auto. Trotzdem sind 90 Minuten nicht annähernd genug Zeit, um sich ein umfassendes Bild zu machen. Das hat sich wohl auch Polestar gedacht und uns angefragt, ob wir nicht Lust hätten, ihr Elektroauto etwas ausführlicher unter die Lupe zu nehmen. Spoiler: Hatten wir.
Ein Smartphone auf vier Rädern
Zum Handkuss kam ich, ein Mensch, von dem ihr wissen müsst, dass er sich selbst überhaupt nicht zu den grossen Autofans zählt. Ich halte Autos für praktisch, um von A nach B zu kommen und eine schöne Optik ist mir fast wichtiger als das Innenleben. Mit Dingen wie Pferdestärken, sportliches Fahrverhalten oder schneller Beschleunigung lockt man mich eher nicht. Du kannst mich also weniger als Autoenthusiast betrachten und mehr als der grummelige, aber nette Typ von nebenan, für den ein Auto eher ein Alltagsgegenstand ist und weniger ein Statussymbol.
Trotzdem muss ich sagen, dass der Polestar 2 auch mich nicht kaltlässt, als ich ihn beim Abholen in der Garage das erste Mal in Wirklichkeit sehe. Das elegante, schnittige Design kann man gerne mit nordischer Kühle beschreiben und gefällt mir ausserordentlich. Auch das Logo von Polestar, ein stilisierter Polarstern, macht was her. Ja, der Polestar ist ein gut aussehendes Elektroauto, auch wenn es für meinen Geschmack etwas gross ist – aber welches Auto ist das heutzutage nicht?
Nach einer rund 20-minütigen Einführung werde ich mir selbst überlassen und darf das Auto für eine Woche mitnehmen. Der erste Eindruck, als ich mich hinters Lenkrad setze: In mir kribbelt es, etwas, das ich sonst bei Autos nicht habe. Der Grund dürfte wohl darin liegen, dass der Polestar 2 schon fast ein Smartphone auf vier Rädern ist. Es gibt einen Touchscreen in der Mittelkonsole, hinter dem Lenkrad wird mir alles digital eingeblendet, was ich wissen muss und ich muss das Ding sogar aufladen. Mehr Gadget-Feeling geht kaum. (Fairerweise muss ich anmerken, dass es mir wohl bei vielen anderen aktuellen Elektroautos auch so ergangen wäre).
Ruhig und angenehm zu fahren
Als ich schliesslich losfahre, ist das Fahrgefühl im ersten Moment schon sehr speziell. Zum einen, weil das Auto praktisch kein Geräusch macht und das schon ein sehr seltsames Gefühl ist. Zum anderen aber auch, weil ich sofort gemerkt habe, wie der Polestar 2 abgeht. Einmal kurz aufs Gas getippt und die Digitalanzeige schnellt auf 50 km/h hoch. Wie bereits erwähnt, ist mir die Motorenleistung bei Autos nicht so wichtig. Als ich allerdings im Verlauf der Woche beim Anfahren an Lichtsignalen gesehen habe, wie die Benziner in meinem Rückspiegel rapide kleiner werden, konnte ich mir ein spitzbübisches Grinsen nicht verkneifen.
Was mir beim Polestar 2 am ersten Tag am meisten aufgefallen ist, ist wie ruhig das Fahrzeug über die Strasse – ich möchte schon fast sagen, schweben – fährt. Tatsächlich hatte ich öfter das Gefühl, um einiges langsamer zu fahren, als ich tatsächlich gefahren bin. Bin ich beispielsweise mit 50 innerorts durch ein Dorf gefahren, kam es mir vor, als würde ich mit 30 km/h über die Strasse schlängeln. Das klingt jetzt im ersten Moment negativ, ist es aber keinesfalls. Es ist tatsächlich sehr angenehm, wenn man plötzlich so einen ruhigen Innenraum hat. Aber eben auch ungewohnt. Spätestens nach der Hälfte des Testraums hatte ich mich aber daran gewöhnt.
Auf keinen Fall sollte man sich übrigens auf die eingeblendete Tempolimits bei der Digitalanzeige verlassen. Diese ist allerhöchstens eine Hilfestellung, aber keine verlässliche Angabe. Das sollte eigentlich klar sein, denn auch die Dame von Polestar hat mich bei der Einführung ermahnt, mich nicht auf diese Anzeige zu verlassen. Was sie damit gemeint hat, habe ich dann im Laufe der sieben Tage schnell gemerkt.
Es ist nicht so, dass die Anzeige oft daneben liegt. Meistens hat sie Mühe, wenn mehrere Strassen parallel verlaufen, die unterschiedliche Tempolimits haben. So kommt es dann beispielsweise vor, dass man auf der Autobahn ein Limit von 60 km/h angezeigt bekommt, weil man gerade an einer Autobahneinfahrt vorbeifährt. Selten kommt es aber auch vor, dass die Tempoanzeige anderweitig daneben liegt. In einem Fall wollte sie mir weiss machen, dass ich in einer 30er-Zone ruhig 50 fahren könne. Da hätte die Polizei garantiert keine Freude gehabt.
Google Automotive mit 4G
Das soll keine Kritik an der Software des Polestar 2 sein. Dass solche Tempolimits nicht verlässlich sind, sollte eigentlich klar sein. Kein Hersteller kann hier mit verlässlichen Daten dienen. Ob diese Daten jemals verlässlich sein werden, ist fraglich. Spätestens wenn irgendwo eine neue Baustelle steht, ist die Software im Hintertreffen. Beim OS setzt Polestar übrigens auf Googles Android Automotive 11. Sprich: Du kannst dir alles installieren, was du aus Googles Play Store kennst.
In meiner Testphase hat die Software perfekt funktioniert. Mit dem Google-Account ist man in Sekunden eingeloggt und hat dann Zugriff auf seine Daten. So kannst du dir beispielsweise auch auf dem Handy Routen speichern und dann diese direkt in den Favoriten im Polestar 2 aufrufen. Auch Spotify, Audible und ein paar andere Apps, die ich getestet habe, haben einwandfrei und ohne Ruckeln funktioniert. Falls du ein iPhone hast, kannst du dieses per Bluetooth mit dem Polestar 2 verbinden. Auch das klappte in meinem Test auf Anhieb. Die Bluetooth-Verbindung war dabei immer stabil und hatte keinen einzigen Aussetzer.
Das Unternehmen hat versprochen, dass iPhone-User, die einen Polestar 2 haben, auch bald in den Genuss von Apple Carplay kommen werden. Das Update wird laut einer Twitter-Mitteilung von Polestar seit Juni 2022 verteilt. Bei meinem Testfahrzeug war das Update zum Testzeitpunkt allerdings noch nicht verfügbar. Dafür verspricht Polestar, dass man auch die nächste Generation von Apple Carplay via Update nachrüsten wird.
Die ganze Multifunktionalität nützt natürlich nichts, wenn man keine Internetverbindung hat. Diese bewerkstelligt der Polestar 2 via integriertem Modem mit LTE (also 4G). Das sorgt für genug Geschwindigkeit, sodass du sogar easy Netflix über den eingebauten Touchscreen schauen könntest. (Natürlich nicht während dem Fahren). Alternativ könntest du den Polestar 2 auch über ein via Bluetooth verbundenes Handy oder Wi-Fi-Netz mit dem Internet verbinden. Dank des integrierten Fahrzeugmodems sind die letzten beiden Optionen in den ersten drei Jahren aber sowieso kein Thema. Während dieser Zeit ist das Internet via Fahrzeugmodem nämlich im Kaufpreis inbegriffen.
Der Polestar 2 überzeugt sogar Verbrennerfans – oder zumindest einen
Doch wie fährt sich der Polestar denn nun? Nun, sagen wir es mal so: Mein Bruder ist das, was ich als Autoenthusiast bezeichne. Er fährt Benziner, keiner jünger als 20 Jahre und natürlich auch solche mit dem einen oder anderen Spoiler auf dem Heck. Elektroautos? Meh!
Natürlich konnte ich es nicht lassen, ihm den Polestar 2 zu zeigen. Er war auch sehr interessiert und so kam es, dass er über eine Stunde im Polestar 2 mit mir durch die Gegend gekurvt ist. Ganz gemütlich, mal über die Autobahn, dann wieder durch die Gassen von Malans und Vaduz. Ja und was soll ich sagen? Er war positiv überrascht. Er war sogar sehr angetan. Tatsächlich hat er sich sogar zu einer Aussage verleiten lassen, die ich nicht von ihm erwartet hätte: «Sollte ich mir in vier bis fünf Jahren ein neues Auto kaufen, kann ich mir vorstellen, dass es ein Polestar sein wird.» Wow. Das hat gesessen. Man beachte den kleinen, aber feinen Unterschied: Er hat gesagt «falls ich mir ein neues Auto kaufe» nicht «falls ich mir ein Elektroauto kaufe».
Tatsächlich hat er mir dann eröffnet, dass er auch schon einmal in einem Tesla gesessen habe, ihm der Polestar 2 aber besser gefalle. Vor allem beim Interieur fände er den Polestar 2 übersichtlicher und schöner. Beim Tesla habe er das Gefühl, er werde von Touchscreens erschlagen. Und dass der Polestar 2 ordentlich «Pfupf» habe, hat ihm natürlich auch gefallen.
Ein wesentlicher Aspekt, das will ich euch nicht verschweigen, spielen bei ihm aber auch die aktuellen Benzinpreise. Hier kann der Polestar 2 Standard Range Single Motor natürlich ordentlich punkten. Einmal komplett an der Haushaltssteckdose aufgeladen, kostet mich eine komplette Akkuladung knapp sechs Franken – in der Stadt Luzern mit Naturstrom zum aktuellen Tagestarif des ewl. Damit kann ich im Moment nicht einmal drei Liter Benzin kaufen.
Reichweitenangst? Unbegründet!
Damit komme ich zum wichtigsten Punkt dieses Tests: die Reichweite und das Laden. Noch immer gibt es viele Leute, die Elektroautos aus diesen zwei Gründen nicht kaufen. Zum einen wäre da die Reichweitenangst. Nach meinem siebentägigen Test mit dem Polestar 2 kann ich sagen: Sie ist unbegründet. Einmal voll aufgeladen schafft der Polestar 2 in der Standard Range Single Motor, wie ich ihn getestet habe, nach WLTP 474 Kilometer. Das ist natürlich ein theoretischer Wert, den du kaum erreichen wirst.
In meinem Test habe ich in einer Arbeitswoche, also Montag bis Freitag, 270,6 Kilometer absolviert, mit einem durchschnittlichen Tempo von 46 km/h (Ich bin mehrmals im stockenden Verkehr über die Autobahn gekrochen). Danach hatte ich noch einen Akkustand von 34 Prozent, was laut der Anzeige des Polestar 2 für weitere 120 Kilometer gereicht hätte. Mit einer Akkuladung hätte ich mit dem Polestar Standard Range Single Motor also knapp 400 Kilometer geschafft. Damit schaffst du mit dem Polestar 2, der die kleinste Reichweite hat, locker die Strecke von Bern nach Lugano, um dort deine Ferien zu verbringen. Ja, selbst von Genf aus würdest man es knapp schaffen, auch wenn ich da wohl doch etwas angespannter wäre.
Glücklicherweise gibt es mittlerweile auch in der Schweiz genügend Ladestationen. Selbst in dem Kaff, in dem meine Eltern wohnen (ungefähr 5000 Einwohner), gab es sechs öffentliche Ladestationen. Klar, ein bisschen organisieren muss man sich schon, weil die selten gleich um die Ecke liegen. Aber es ist nur eine kleine Umstellung, an die man sich gewöhnen muss, danach funktioniert das wunderbar. Aber klar, ich will nicht leugnen, dass das Laden auch an Ladestationen noch seine Zeit dauert. Das hängt vor allem auch von der Leistung ab. In der Theorie ist der Polestar 2 Standard Range Single Motor in 40 Minuten von 0 auf 80 Prozent geladen. Dafür brauchst du aber eine Schnellladestation mit 115 kW DC Leistung. In meinem Fall gab es nur 22 kiloWatt und so war der Polestar 2 nach 40 Minuten nicht bei annähernd 80 Prozent.
Daher ist es wichtig, dass du dich vorher immer informierst, wie viel Leistung dir eine Ladestation bietet. Bei einer mit 22 kiloWatt kann es nämlich von 0 auf 100 Prozent gerne mal gegen die fünf Stunden dauern, bis der Polestar 2 aufgeladen ist. Hierbei muss ich aber auch anmerken, dass die letzten 20 Prozent eines Akkus immer unverhältnismässig lange brauchen, bis sie voll sind. Das ist bei Elektroautos nicht anders als bei Smartphones. Glücklicherweise kannst du beim Polestar 2 einstellen, auf wie viel Prozent du ihn geladen haben möchtest. Stellst du also ein, dass er maximal auf 80 Prozent laden soll, wird er auch mit 22 kiloWatt einigermassen rasch geladen sein.
Fazit zum Laden des Polestar 2
Wer zu Hause keinen eigenen Parkplatz hat, an dem eine Steckdose vorhanden ist, muss zumindest anfangs etwas planen. Vielleicht gibt es am Arbeitsplatz eine Lademöglichkeit oder man hat in Gehdistanz eine Lademöglichkeit – und damit oft einen kostenlosen Parkplatz mitten in der Stadt. Wenn du täglich nicht mehr als 50 Kilometer fährst, wirst du den Polestar 2 Standard Range Single Motor frühestens nach acht Tagen wieder aufladen müssen. Und einmal alle acht Tage eine Ladestation finden, ist bei der aktuellen Ladeinfrastruktur keine grosse Sache mehr. Selbst in ländlichen Regionen, wie dem Emmental, gibt es beinahe in jedem Dorf mindestens eine Schnellladestation.
Wer eine eigene Garage mit Steckdose hat, wird mit dem Polestar 2 wunderbar zurechtkommen. Das Auto abends in die Garage gestellt und eingestöpselt, ist es am nächsten Tag wieder voll aufgeladen und betriebsbereit.
Etwas meckern muss trotzdem sein
Zwei kleine Dinge haben mich beim Polestar 2 dann aber doch noch gestört. Zum einen war das der Schlüssel: Für so ein schönes Auto kommt der Schlüssel optisch irgendwie billig daher. Es ist einfach ein viereckiges, dickes Plastikdings, das irgendwie nicht zur edlen Optik des Polestar 2 passt. Tragisch ist das natürlich nicht, aber für mich gehört das zum Gesamtpaket dazu.
Der zweite viel wichtigere Punkt, der mich gestört hat, ist die Taste für den Pannenblinker. Diesen schaltet man ein, indem man das Drehrad für die Audiolautstärke leicht nach unten drückt. Ich finde das sehr unglücklich gelöst. Ich habe mindestens dreimal den Pannenblinker eingeschaltet, als ich eigentlich nur kurz die Lautstärke regeln wollte. Klar, wenn man es weiss, achtet man darauf und es passiert vermutlich nicht mehr (oder kaum noch). Aber optimal gelöst ist das definitiv nicht.
Testfazit zum Polestar 2 Standard Range Single Motor
Nach einer Woche Testfahrt mit dem Polestar 2 muss ich sagen: Ich bin sehr angetan von diesem Fahrzeug und hätte es gerne noch etwas länger behalten. Und tatsächlich ging es nicht nur mir so. Der Polestar 2 ist ein wahrer Eisbrecher. Ich bin wohl noch nie in meiner «Autofahrerlaufbahn» so oft von fremden Personen auf mein Fahrzeug angesprochen worden, wie mit dem Polestar 2. Meist war es schlicht Neugierde in Bezug auf Elektroautos, aber immer fiel früher oder später eine Bemerkung, was für ein schönes Auto der Polestar 2 doch sei. Das schmeichelte meinem Autofahrerego dann doch etwas mehr als ich zugeben möchte.
Abschliessend kann ich sagen: Der Polestar 2 hat bei mir ziemlich Eindruck hinterlassen. Die Volvotochter hat ein Auto gebaut, das Spass macht, durchdacht ist und auch optisch überzeugt. Wer von euch mit dem Gedanken spielt, ein Elektroauto zu kaufen, sollte unbedingt eine Probefahrt mit dem Polestar 2 machen.
Den Polestar 2 Standard Range Single Motor gibt es aktuell neu ab 45’900 Franken. Mehr Informationen und technische Details findest du auf der offiziellen Website von Polestar.
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